Buchempfehlung zum Jahresende
Christian Geyer. Niklas Luhmann. Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten.
Springer VS. 2016. 80S.
Das Gefühl der Zeitknappheit kennen ja fast alle, gerade auch zum Jahresende, wenn Weihnachten wieder „ganz plötzlich“ vor der Tür steht. Daher empfehlen wir, als Weihnachtsgeschenk oder für das eigene Lesevergnügen zwischen den Jahren, das neue Buch von Christian Geyer: Niklas Luhmann. Die Knappheit der Zeit und die und die Vordringlichkeit des Befristeten.
Viel zu häufig hören wir Plattitüden zum Thema Zeit: Die Zeit ist knapp, Alles wird schneller, die Möglichkeiten sind unendlich, wir sind Opfer der Beschleunigung und Vieles mehr. Welche Wohltat da wieder auf Niklas Luhmann zurückgreifen zu können. Ein Aufsatz von Luhmann über Zeit als Medium der Kontingenzbewätigung, von 1971 ergänzt von Christian Geyer über das entgrenzte Leben, dem Fluch der unendlichen Möglichkeiten.
Und Vieles was Luhmann schreibt ist so wunderbar zeitlos; Zeitmangel als Statussymbol und Beweis der eigenen Bedeutung ist ja auch heute noch sehr aktuell: „Wer zugibt, viel Zeit zu haben, disqualifiziert sich selbst und scheidet aus der Gesellschaft derer, die etwas leisten, etwas fordern, etwas erhalten können, aus“. „Termine und Fristen“ schreibt Luhmann „sind institutionalisierte Ausreden. Durch Berufung auf einen Termin kann man sich neuen Engagements für den gleichen Zeitraum entziehen.“
Was Fristen hat, realisiert sich, was keine hat, bleibt auf der Strecke. Noch bedenklicher; was Termine hat und deshalb scheinbar erledigt werden muss, gewinnt irgendwann an Bedeutung und so erscheint uns manches plötzlich nicht mehr wichtig, nur weil es nicht dringlich ist.
So hat der Termindruck Einfluss auf den Wert. Luhmanns Überlegungen als Ausgangspunkt wählend, streift Geyer anschließend munter viele Themen und Probleme unserer Zeit. Handlungsentscheidung unter Unsicherheit, überzogene Erwartungen an das, was alles sein kann und dann am Ende zu Nichthandeln verführt. Über Entgrenzung und Entfremdung, die beispielsweise zu solchen Phänomenen führt, dass sich mache Personalgesuche heute wie Stellenbeschreibungen für Borderline-Existenzen lesen und Vieles mehr. Immer rund um die Frage: Was ist möglich, wenn alles möglich ist und wenn wir alles erwarten. Und ohne kulturpessimistisch erscheinen zu wollen, kommt einem dann das Setzen von Fristen und das Akzeptieren von „Begrenzen“ als verlockender Gedanke vor. Im Sinne Luhmanns und Geyers heißt das aber auch, nicht jede Frist und Begrenzung, sondern Stellung zu nehmen zu den Befristungen und Möglichkeiten die wir haben. Es ist eben doch nichts alles möglich… aber wir entscheiden, was möglich ist.
Marion Schenk 2017
Ich teile die Ansicht, dass intellektuelle Unterforderung von Entscheider*innen in komplexen Märkten und Welten nicht gerade sinnvoll erscheinen. Das Buch lädt dazu ein, kritisch über zweckrationales Denken nachzudenken. Es sieht — um das Ende vorwegzunehmen — das Management als „Dilemmaentfaltungsinstanz“. Da gibt es keine eindeutigen und trivialen Lösungen. Eine mögliche „Funktion“ zweckrationalen Denkens in Unternehmen: Das Organisieren und Gestalten in Organisationen scheint berechenbar und angstfreier zu bewältigen. Das ist keine neue Erkenntnis, aber hier noch einmal prägnant zusammengefasst:
- Zweckrationalität beim Top-Management bedeutet „ich habe einen Plan“ und führt zu Angstreduktion.
- Gegenüber den Mitarbeitenden heißt das dann: „Macht euch keine Sorgen, wir — das Management — haben einen Plan“
- Die Berater*innen versprechen dem Top-Management: „Macht euch keine Sogen, wir haben einen Plan (Expertenberatung) oder wir machen gemeinsam einen Plan (Organisationsberatung)“
Bei der Arbeit mit und in Firmen unterliegen wir immer wieder der zweckrationalen Illusion. Wir zeichnen Zukunftsbilder und Visionen, die vermeintlich weniger „irrational“ sind als die gegenwärtigen Zustände in der Organisation. Dabei wird suggeriert, der Prozess dahin könnte gestaltet und dieser „rationalere“ Zustand der Organisation könne erreicht werden. Kühl und Muster nennen das Ästhetisierung der Organisationszukünfte.
Welches Top-Management möchte schon für die Begleitung eines Prozesses bezahlen, der von einem nicht-rationalen, widersprüchlichen Zustand in einen anderen nicht-rationalen mit Dilemmata behafteten Zustand führt?
„Im Verlauf solcher zweckrational geplanter Veränderungsprojekte wird schnell deutlich, wie sich die Idee oder Strategie abnutzt und an Attraktivität verliert. Je konkreter ein Masterplan in die Realität umgesetzt wird, desto deutlicher wird, dass dieses Konzept ähnliche Widersprüchlichkeiten birgt, wie alle anderen vorher bekannten Organisationskonzepte auch.“
Dabei ist es gut, sich wieder daran zu erinnern: Wenn wir Organisationen als Systeme verstehen, dann sind diese von Paradoxien gekennzeichnet. Das heißt aber auch, dass das System nach einem Veränderungsprozess erneut Widersprüche und Paradoxien enthält. Veränderungspläne und die beschriebene Zukunft sehen vielleicht gut aus, je mehr sie umgesetzt werden, desto sichtbarer werden die Lücken und Widersprüche. Das ästhetische Zielbild verliert an Glanz, der Lack blättert ab, Enttäuschung ist vorprogrammiert und wird dann „Widerstand gegen Veränderung“ genannt.
Gibt es ausser Kritik an der herrschenden Praxis auch Hilfreiches für die Zukunft? Die Einladung besteht darin, die Latenzen der Organisation in den Blick zu nehmen, Beobachtungs-Latenzen und Blinde Flecken in den Fokus zu rücken. Was kann nicht gesehen werden? Was kann nicht angesprochen werden, weil es keine Kommunikationsroutine dafür gibt oder weil es nicht opportun ist, das zu tun? Hilfreiche Fragen, die sich anschließen und an den Entscheidungsprämissen von Organisationen ansetzen:
- Lassen sich Programme ändern, wenn ja welche?
- Lassen sich Kommunikationswege ändern? Wenn ja wie?
- Wo ist es möglich Einstellungen, Versetzungen, Entlassungen möglich zu machen, die dazu führen, dass der Typus von Entscheidungen verändert wird?
Dort zeigen sich mobile oder immobile Strukturmerkmale und bieten Stellschrauben, an denenangesetzt werden kann.
Und es findet sich noch ein Plädoyer für etwas mehr Gelassenheit und gegen einen falsch verstandenen „ganzheitlichen Gestaltungsanspruch“:
„Niklas Luhmann spricht davon, dass es nur ein einziges unausweichliches „Organisationsgesetz“ gibt: Es kann in einer Organisation nicht alles gleichzeitig verändert werden! Die Organisation würde sich völlig übernehmen, wenn sie versuchen würde, an allen Stellschrauben gleichzeitig zu drehen. Sie würde Gefahr laufen, sich kaum wiederzukennen und angesichts dieser Gefahr vermutlich in eine Schockstarre verfallen.“
Fazit: Ein kleines und feines Buch, gehaltvoll und portionsweise zu genießen.
Marion Schenk, September 2018
Mehr über die Möglichkeiten von Organisationsveränderung können Sie auch in unseren vielseitigen Veranstaltungen erfahren. Hier finden Sie eine Übersicht über die nächsten Veranstaltungen.